Naturwissenschaftliche Forschung verstehen
Wissenschaftsverständnis von Schüler*innen diagnostizieren
von Frauke Voitle
Damit Schüler*innen die Welt verstehen lernen, müssen sie wissen, wie Wissenschaftler*innen zu neuen Erkenntnissen kommen – das ist ein wichtiger Bestandteil von Bildung und wird unter dem Lernziel „Scientific Literacy“ subsumiert.

Das Wissenschaftsverständnis der Schüler*innen ist in der Schule sowohl eine wichtige Lernvoraussetzung, beispielsweise als Grundlage für eine hohe Selbstständigkeit beim Forschenden Lernen, als auch ein Lernziel, welches Schüler*innen unter anderem die kritische Einordnung von Informationen ermöglicht. Um Ansichten der Schüler*innen in diesem Bereich zu erfassen, wurde in der Arbeitsgruppe um die Wissenschaftler*innen Norman (†) und Judith Lederman vom Illinois Institute of Technology in Chicago, USA, ein Instrument entwickelt. In einem internationalen Kooperationsprojekt erhoben Forschende mit diesem Instrument weltweit die Ansichten von Schüler*innen zu naturwissenschaftlichen Untersuchungen. Mitarbeitende des IPN haben sich an diesem Projekt beteiligt und mehrere Versionen des Instruments für die Grundschule und weiterführende Schule ins Deutsche übersetzt und in den Klassenstufen 4, 7 und 12 an insgesamt 283 Schüler*innen angewendet. Ziel des Teilprojekts am IPN war es einerseits, empirisch erprobte deutsche Versionen des Instruments für die Forschung bereitzustellen, und andererseits, Besonderheiten im Lernen und Lehren naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung in Deutschland zu charakterisieren.
Erhebungsinstrument
Der VASI (Views About Scientific Inquiry Questionnaire) ist ein Testinstrument, mit dem sich das Wissen und Verständnis von Schüler*innen zum Prozess der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung erfassen lässt. Der VASI besteht aus sieben zum Teil mehrteiligen Fragen, die jeweils gezielt das metakonzeptionelle Verständnis für die acht Aspekte erfragen sollen. Er liegt in zwei Versionen vor, für den Elementarbereich und für die weiterführende Schule. Bei der Auswertung wird unter anderem zwischen fachlich inadäquaten und adäquaten Antworten der Schüler*innen unterschieden.
Ein adäquates Verständnis der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung ist Teil von Scientific Literacy. Es werden zwei Komponenten unterschieden, die mit unterschiedlichen didaktischen Ansätzen einhergehen:
- Fähigkeiten und Fertigkeiten zur praktischen Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung („doing scientific inquiry“)
- Metakonzeptionelles Verständnis und theoretisches Wissen zur naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung („knowing about scientific inquiry“)
Lederman et al. postulieren im Jahr 2014 acht Aspekte, um ein angemessenes metakonzeptionelles Verständnis und theoretisches Wissen zum Prozess der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung im Unterricht zu fördern. Die Charakteristika des naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses werden dabei unter dem Begriff Nature of Scientific Inquiry („NOSI“) zusammengefasst.
Nature of Scientific Inquiry („NOSI“)
NOSI-1: Naturwissenschaftliche Untersuchungen beginnen immer mit einer Fragestellung, überprüfen aber nicht notwendigerweise eine Hypothese.
NOSI-2: Es gibt nicht die eine bestimmte Abfolge von Schritten, welcher alle naturwissenschaftlichen Untersuchungen folgen, d.h. es gibt nicht die naturwissenschaftliche Methode.
NOSI-3: Vorgehensweisen bei naturwissenschaftlichen Untersuchungen werden durch die Fragestellung bestimmt.
NOSI-4: Naturwissenschaftler*innen, die die gleichen Verfahren durchführen, erhalten nicht zwangsläufig auch die gleichen Ergebnisse.
NOSI-5: Vorgehensweisen bei naturwissenschaftlichen Untersuchungen können die Ergebnisse beeinflussen.
NOSI-6: Schlussfolgerungen aus naturwissenschaftlicher Forschung müssen mit den gesammelten Daten vereinbar sein.
NOSI-7: Naturwissenschaftliche Daten sind nicht dasselbe wie naturwissenschaftliche Belege.
NOSI-8: Naturwissenschaftliche Erklärungen werden aus einer Kombination von gesammelten Daten und bereits bestehendem Wissen entwickelt.
Wie denken Schüler*innen über den Aspekt „Die Fragestellung bestimmt die Vorgehensweise“ (NOSI-3)?

Erläuterung zum NOSI-Aspekt: „Bei naturwissenschaftlichen Untersuchungen ergeben sich die Vorgehensweisen durch die zu Beginn des Forschungsvorhabens definierten Forschungsfragen. Die Forschungsfrage ist handlungsleitend für den weiteren Forschungsprozess. Aus ihr wird unter anderem der Aufbau der durchzuführenden Untersuchung abgeleitet. Die Untersuchung muss dabei so geplant werden, dass sich mit den gesammelten Daten eine Aussage zur die Forschungsfrage getroffen werden kann.“
Ausgewählte Ergebnisse zum Wissenschaftsverständnis von Schüler*innen in Deutschland
Die Studie wurde im Rahmen eines internationalen Kooperationsprojekts durchgeführt, bei dem das Verständnis von Schüler*innen zum naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess in verschiedenen Ländern mittels des VASI erfasst und anhand der zuvor benannten acht Aspekte beschrieben wurde. Speziell für den hier vorgestellten Aspekt, dass die Fragestellung die Vorgehensweise bestimmt (NOSI-3), zeigte sich in der Befragung von deutschen Schüler*innen der 7. bei etwa 50% und bei Schüler*innen der 12. Klasse bei etwa 75 % ein adäquates Verständnis dieses Aspekts. Auch bei einer Studie mit Schüler*innen der 4. Klasse zeigte der Einsatz einer altersgerechten Variante des VASI, dass bereits etwa ein Viertel der Grundschüler*innen ein adäquates Verständnis zur Auswahl von Vorgehensweisen basierend auf der Fragestellung hatte. Der Anteil der Antworten mit einem adäquaten Verständnis dieses Aspekts lag damit bei allen drei deutschen Stichproben über dem ermittelten internationalen Durchschnitt.
Der Anteil der adäquaten Schülerantworten zwischen den untersuchten Aspekten des Wissenschaftsverständnisses unterschied sich für die deutschen sowie auch für die internationalen Schüler*innen deutlich. In der weiterführenden Schule reichte der Anteil adäquater Antworten von lediglich 10%, für den Aspekt „Daten unterscheiden sich von Belegen“ bis zu 75 % der Antworten für die beiden Aspekte „Fragestellung bestimmt Vorgehensweise“ und „Erklärungen kombinieren Daten und Vorwissen“. Bei der Interpretation dieser Häufigkeiten sowie der Ableitung von Empfehlungen für den naturwissenschaftlichen Unterricht gilt es jedoch zu beachten, dass den deutschen Bildungsstandards zum Teil eine andere Schwerpunktsetzung zu Grunde liegt. Beispielsweise steht die Unterscheidung von Daten und Belegen nicht explizit im Fokus der deutschen Bildungsstandards. Relevant für die Unterrichtsgestaltung erscheint dabei auch die inhaltliche Auswertung der Antworten der Schüler*innen, die darauf hindeutet, dass die Objektivität von Forschenden von den deutschen Schüler*innen häufig überschätzt und Aspekte der Subjektivität eher unterschätzt werden. Insgesamt stützen die Daten jedoch die Vermutung, dass Schüler*innen höherer Klassenstufen in der Regel ein differenzierteres Wissenschaftsverständnis haben.
Fazit
Insgesamt stützen die Erkenntnisse dieser Untersuchung die Vermutung, dass Schüler*innen höherer Klassenstufen in der Regel ein differenzierteres Wissenschaftsverständnishaben. Für einzelne NOSI-Aspekte waren adäquate Vorstellungen bereits am Ende der Grundschule vorhanden. Es ist jedoch zu beachten, dass auch zum Ende der Schulzeit nicht alle NOSI-Aspekte gleichermaßen gut von den Schüler*innen verstanden werden.
Über die Autorin:

Dr. Frauke Voitle hat ihr erstes Staatsexamen an der RWTH Aachen und ihr zweites Staatsexamen in Schleswig-Holstein abgeschlossen. Während ihrer Promotion war sie am IPN sowie der Leibniz Universität Hannover tätig und ist nun wissenschaftliche Mitarbeiterin am IPN. In ihrer Dissertation setzte Frauke Voitle sich mit dem Wissenschaftsverständnis von Schüler*innen auseinander, wobei sie unterschiedliche Forschungsperspektiven hierauf in ihrer Arbeit integrierte. voitle@leibniz-ipn.de
Weiterführende Literatur:
Lederman, J. S., Bartels, S., Jimenez, J., Lederman, N. G., Acosta, K., Adbo, K., … Neumann, I., … Voitle, F., … Zhu, Q. (2023). Completing the progression establishing an international baseline of primary, middle and secondary students’ views of scientific inquiry. International Journal of Science Education, 46(7), 715–731. https://doi.org/10.1080/09500693.2023.2256458
Lederman, J. S., Lederman, N. G., Bartels, S., Jimenez, J., Acosta, K., Akubo, M., … Kremer, K., … Neumann, I., … Voitle, F., Wishart, J. (2021). International collaborative follow-up investigation of graduating high school students’ understandings of the nature of scientific inquiry: is progress Being made? International Journal of Science Education, 43(7), 991–1016. https://doi.org/10.1080/09500693.2021.1894500
Voitle, F. (2024). Two perspectives, one goal: Integrating empirical considerations of Epistemic Beliefs and Nature of Science to assess students’ views about science. Dissertation. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN). MACAU. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:8:3-2024-00411-2
Voitle, F., Lütkemeyer, J., Neumann, I., Kremer, K. (2024). Drei Lampen sind besser als eine: Wissenschaftsverständnis diagnostizieren und fördern im naturwissenschaftlichen Sachunterricht. MNU Journal 77(5), 356-360.
Lederman, J.S., Lederman, N.G., Bartels, S., Jimenez, J., Akubo, M., Shereen, A., … Kremer, K., … Neumann, I., … Voitle, F., … Zhu, Q. (2019): An international collaborative investigation of beginning seventh grade students' understandings of scientific inquiry. Establishing a baseline. Journal of Research in Science Teaching 37(10), 486–515. https://doi.org/10.1002/tea.21512