Nachgefragt bei Ute Harms
„Es ist wichtig zu verstehen, dass äußere Einflüsse genetische Veranlagungen beeinflussen können.“
Warum soziale, politische und wirtschaftliche Faktoren in der Humangenetik nicht ignoriert werden dürfen - und auch nicht im Biologieunterricht
In einem Artikel der Fachzeitschrift Science plädieren Forschende dafür, gesellschaftspolitische Faktoren in der Humangenetik stärker zu berücksichtigen – sowohl im Studium als auch im Schulunterricht. Ute Harms, Direktorin der IPN-Abteilung Didaktik der Biologie, ist Co-Autorin des Beitrags und erklärt im Interview mit dem IPN Journal, welche Auswirkungen das für den Schulunterricht hat.

IPN Journal: Im biologiedidaktischen Schwerpunkt der Fachzeitschrift Science geht es um die Verwendung des Begriffs „Rasse“ in der Humangenetik. Wurde dieser Begriff innerhalb der Humangenetik nicht zu Recht gestrichen?
Prof. Dr. Ute Harms: Der Begriff „Rasse“ hat in der Vergangenheit viel Leid verursacht und ist leider immer noch von gesellschaftlicher Relevanz, die äußerst problematisch ist. Biologisch betrachtet ist das Konzept der Rasse auf den Menschen nicht anwendbar und wissenschaftlich nicht haltbar. Dies verdeutlicht beispielsweise auch die Stellungnahme der Leopoldina zur evolutionsbiologischen Bildung aus dem Jahr 2017.
In der Biologiedidaktik betrachten wir längst nicht mehr nur die biologische Perspektive, sondern thematisieren auch die gesellschaftlichen, politischen und individuellen Folgen, die sich aus der Anwendung des Rassebegriffs auf den Menschen ergeben können. In der Hochschullehre der Biowissenschaften werden diese gesellschaftspolitischen Aspekte jedoch häufig ausgeklammert oder nur am Rande berücksichtigt. Dadurch besteht die Gefahr, dass Studierende die Relevanz der nicht-biologischen Dimensionen und die potenziellen Folgen der Verwendung des Rassebegriffs – sowohl für Einzelpersonen als auch für die gesamte Gesellschaft– nicht oder nicht differenziert genug verstehen.
Wir empfehlen deshalb, soziale und politische Einflüsse in der Hochschullehre zur Humanbiologie und Genetik stärker zu berücksichtigen. Es ist wichtig zu verstehen, dass äußere Lebensumstände, wie Armut, die gesundheitliche Entwicklung und sogar die genetische Veranlagung beeinflussen können. So führt beispielweise eine schlechte Ernährung, die in wirtschaftlich benachteiligten Verhältnissen häufiger vorkommt, oft zu gesundheitlichen Problemen. Besonders in Ländern wie den USA leben Menschen mit schwarzer Hautfarbe überproportional in sozial benachteiligten Verhältnissen – nicht aus biologischen Gründen, sondern als Folge gesellschaftlicher und politischer Strukturen.
»Besonders in Ländern wie den USA leben Menschen mit schwarzer Hautfarbe überproportional in sozial benachteiligten Verhältnissen – nicht aus biologischen Gründen, sondern als Folge gesellschaftlicher und politischer Strukturen.«
IPN Journal: Der Artikel fokussiert vor allem den US-amerikanischen Bildungsraum. Sehen Sie auch in Deutschland Anlass, den Genetikunterricht in der Schule anzupassen, und wenn ja, welche Änderungen wären aus Ihrer Sicht notwendig?
Prof. Dr. Ute Harms: Ein kritischer Punkt – auch in Deutschland – ist, dass der Genetikunterricht leicht zu deterministischen Vorstellungen bei den Schülerinnen und Schülern führen kann. Das heißt, sie könnten fälschlicherweise annehmen, dass das Vorhandensein eines bestimmten Gens unabwendbare Folgen hätte. Sie könnten beispielsweise bei einem mutierten Gen, das für Brustkrebs codiert, davon ausgehen, dass es unweigerlich zur Erkrankung führt. Dies ist jedoch insofern falsch, als es sich hierbei nur um eine Wahrscheinlichkeit handelt, die von weiteren Faktoren wie Ernährung, körperlicher Fitness und psychischer Gesundheit abhängig ist.
Hier wird deutlich, dass auch gesellschaftliche und ökonomische Aspekte eine Rolle spielen. Nach meiner Auffassung sollten Schulbücher und andere Unterrichtsmaterialien diesen Zusammenhang klarer herausstellen. Zudem stellt sich mir die Frage, ob der Einstieg in die Genetik über die Mendelschen Regeln nicht verändert werden müsste, da sie dieses deterministische Verständnis fördern. Und auch in der Ausbildung von Biologielehrkräften sollte diese Thematik stärker berücksichtigt werden.
»Damals ging man davon aus, dass Gene allein für Merkmale verantwortlich sind. Heute wissen wir, dass auch Umweltfaktoren eine entscheidende Rolle spielen.«
IPN Journal: Welche Reflexionen regen Sie an?
Prof. Dr. Ute Harms: Genetische Entdeckungen sollten im Biologieunterricht in ihren historischen Kontext eingebettet werden. Ein Beispiel dafür ist das Humane Genomprojekt der 1990er Jahre. Damals ging man davon aus, dass Gene allein für Merkmale verantwortlich sind. Heute wissen wir, dass auch Umweltfaktoren eine entscheidende Rolle spielen.
Ein trauriges Beispiel liefert die große Hungersnot in den Niederlanden während des Zweiten Weltkrieges, bei der etwa 20.000 Menschen innerhalb kurzer Zeit verhungerten. Diese Ereignisse führten zu epigenetischen Veränderungen, die sogar die nachfolgenden Generationen beeinflussten.
Schülerinnen und Schüler sollten sich auch mit aktuellen Studien auseinandersetzen, um soziopolitische Zusammenhänge zu verstehen und die Wissenschaft kritisch zu betrachten.
IPN Journal: Vielen Dank für das Gespräch.
Über Prof. Dr. Ute Harms:

Prof. Dr. Ute Harms ist Direktorin am IPN und Professorin für Didaktik der Biologie an der CAU. Sie forscht unter anderem zum Lehren und Lernen der Evolution und Genetik.
Weiterführende Quellen:
Duncan, R.G., Krishnamoorthy, R., Harms, U., Haskel-Ittah, M., Kampourakis, K., Gericke, N., Hammann, M., Jimenez-Aleixandre, M., Nehm, R.H., Reiss, M.J., & Yarden, A. (2024). The sociopolitical in human genetics education. Education must go beyond only countering essentialist and deterministic views of genetics. Science, 383 (6685), 826-828. https://www.science.org/doi/10.1126/science.adi8227
Auch in der Sendung „Forschung aktuell“ im Deutschlandfunk wurde die Studie thematisiert: Wildermuth, V. (2024, 23. Februar): Mit dem Genetik-Lehrplan Rassismus vorbeugen [Forschung aktuell]. Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/biodidaktik-wie-genetik-vermitteln-um-rassismus-vorzubeugen-dlf-5abc1a1a-100.html